Genug ist genug: Text von Horst Watzl

Wir erinnern uns. Konstantin Wecker, der Liedermacher und Sänger, impft uns bereits anno 1977 gesanglich und textlich gegen den überbordenden Konsumwahn.

Dieser Stadt schwillt schon der Bauch
Und ich bin zum großen Knall bereit –
Auf den Dächern hockt ein satter Gott
Und predigt von Genügsamkeit!

Genug ist nicht genug
Ich lass' mich nicht belügen
Schon Schweigen ist Betrug –
Genug kann nie genügen!

 

Nun, einige Finanzkrisen samt Rettungsschirmen, einige Umweltkatastrophen samt damit einhergehenden Klimakonferenzen und -vereinbarungen später, legt ein mikroskopisches Virus den gesamten Planeten lahm. Allerorten Ausgangssperren, Maulkörbe, Verordnungen. Wohin führen und beraten uns die Expertinnen und Experten? Über diese Frage zerbrechen sich momentan Menschen den Kopf. Am Tag der Arbeit gibt es in weiten Bereichen dieses verzahnten Wirtschaftsgetriebes keine Arbeit.

Stillstand

Die Ersten werden die Letzten sein. Diese Redewendung trifft auf den Publikums- und förderabhängigen Kulturbereich voll und ganz zu.  Ohne  Fördergelder keine Musik? Ohne Subventionen keine Festivals? Kultur steht still.  So still, dass sie überhört wird. Ein Randthema, ein Nebenschauplatz. Nach der Gesundheits-, Wirtschafts- und Arbeitsplatzdiskussion. Gegen den Strom denken, kritisieren, anstoßen, anregen, aufzeigen, irritieren, provozieren – all die kritischen Stimmen verebben in weltweiten Netz, wo sie nach fünf Minuten schon wieder verhallen. Ausgeblendet und in irgendwelche Randkanäle verbannt. Aufmerksamkeit erregen infektiöse und wiedergenesene Premierminister, laut und stark auftretende Präsidentenkanzler, die unablässig ihre Umfragewerte ins rechte Licht rücken. Salbungsvoll reden sie von ersten und zweiten Wellen, verbreiten Angst und Schrecken um ein System, das möglichst bald wieder normal und funktionstüchtig  gemacht werden soll. Koste es was es wolle.

Chancen

Doch an den Rändern mehren sich Stimmen – vor allem aus dem Wissenschafts- und Kulturbereich, diese virale Warnung doch als Chance zu verstehen. So veröffentlichte die deutsche Politökonomin, Transformationsforscherin, Expertin für Nachhaltigkeitswissenschaft und die Generalsekretärin des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung, Maja Göpel, kurz vor dem Auftreten von Covid-19 unter dem Titel „Unsere Welt neu denken“, ihre Gedanken und Analysen für einen radikalen Umbau unserer Gesellschaften. „Naiv und radikal seien diejenigen, die behaupten, die Welt kann in zehn Jahren noch so aussehen wie heute. Wir müssen und wir können unsere Zukunft gemeinsam neu denken“, so ihre Botschaft.

Doch nicht nur sie, sondern viele Menschen auf diesem Planeten Erde spüren, dass weitere und schlimmere Katastrophen vorprogrammiert sind.  Das bestätigt die anerkannte Klimaforscherin Helga Kromp-Kolb, wenn sie angesichts  der Krise die Frage stellt, ob die Menschen "doch einmal überdenken, ob unser bisheriger Lebensstil wirklich so ideal war, und wie wir diese Phase nützen können, um zu einem anderen Lebensstil zu kommen, der befriedigender ist". Kromp-Kolb hofft hier auf eine Debatte abseits der täglichen operativen Entscheidungen. Stark gefragt wäre dafür auch die Wissenschaft. "Wenn das passiert, dann hätten wir die Chance, dass wir nach dem Coronavirus wirklich zu einer Transformation der Gesellschaft kommen".

Intervention

Neben den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sind es gerade auch die Kulturschaffenden, all jene, die in den allgegenwärtigen Medien einmal zur Erheiterung und Erbauung ein andermal zur satirischen Überhöhung herbeigerufen werden. Nun sitzen sie zuhause  vor den Bildschirmen, schreiben sich ihre Gedanken aus dem Kopf, spielen von Balkonen oder zoomen sich in diverse Kanäle.

Einer von ihnen ist der Schriftsteller Ilja Trojanov. Ein Vordenker, ein „Weltensammler“ -im wahrsten Sinn-, der kürzlich in einem Radiogespräch klar und ziemlich eindrücklich seine Sicht auf diese Krise schilderte. Auch er meint, dieser Weckruf könnte eine Chance für eine tiefgehende Transformation hin zu einer gerechteren Gesellschaft sein. „Krisen haben es so an sich, den Stall des Überkommenen hinwegzufegen“, meint er und es ginge darum, noch größere Krisen frühzeitig zu verhindern. Für die meisten Menschen war und ist die Lage ohnehin schon katastrophal. Jetzt wäre es an der Zeit, Globalität ernst zu nehmen. Deshalb ist ein Rückgang zur Normalität fatal, wenn wir Kultur und Globalität ernst nehmen.

Wie eingangs festgestellt, ist Kunst und Kultur in Krisenzeiten eine Randerscheinung. Förmlich an den Rand gedrückt. Hier ist nicht von den Stars der Unterhaltungs- und Kulturindustrie die Rede, sondern von Kulturschaffenden, die meist fernab der medialen Schlaglichter durch ihre Kunst eine andere, eine bessere Welt herbeisehnen. Gerade sie sind es, die tagtäglich, zumeist unter prekären Lebenssituationen, jene Kunst schaffen, die nachdenklich stimmt. Wo sind die freien Gedankenblitze, wo die künstlerischen Interventionen, die im  weltweiten Raum für globale Solidarität und ein Miteinander eintreten? Wo sind die zweifelnden Ökonomen und Wachstumskritiker in diversen Sendeformaten, die Kooperation, soziale Gerechtigkeit und ein Grundeinkommen für alle Menschen einfordern? Wo sind die Künstlerinnen und Künstler, die dem marktschreierischen Kulturbetrieb den Rücken zuwenden und andere Formen von Kreation und Zusammenarbeit in den Mittelpunkt stellen? Aktuell müssen sie sich bei der Verteilung des Kuchens ganz hinten anstellen. Wenn alles gut geht, werden sie mit einigen Brosamen abgespeist.

Eine andere Kulturwelt

Eine andere Welt ist möglich, hieß es Anfang des Jahrtausends. Doch die Verlockungen des Konsums und der „imperialen Produktions- und Lebensweise“ (Ulrich Brand) sind allgegenwärtig. Eine solidarische Weltgemeinschaft, die sich politisch, ökonomisch und kulturell im besten Sinne beschränkt und zurückhält bedeutet vielfach ein Gewinn an Lebensqualität und Lebensfreude. Künstlerinnen und Künstler unterliegen in sämtlichen Bereichen der Verwertungsgesellschaft. Sie müssen sich auf Gedeih und Verderb einer Markt- und quotenhörigen medial vermittelten Kulturindustrie unterwerfen, um ihr Auslangen zu finden. Kann diese Atempause nicht dazu dienen, über Basisfinanzierungen nachzudenken und bestehende Strukturen aufzubrechen? Die Welt des privaten Mäzenatentums und des staatlichen Förderwesens bedarf einer grundlegenden Neuorientierung.

Macht es Sinn, Riesenorchester mit Riesenaufwand durch die Konzerthäuser dieser Welt zu schleifen, um gerade ihre Interpretation einer dutzendemal gehörten Symphonie für eine ausgewählte Hörerschaft zu spielen? Macht es Sinn eine medial gehypte und gestylte Popgruppe mit allen zur Verfügung stehenden Marketinginstrumenten mit Megaequipment durch die Gegend zu transportieren und noch größere Veranstaltungshallen zu beschallen? Macht es Sinn, Werke bildender Künstler*innen mit abstrusen Summen am undurchschaubaren Kunstmarkt für eine auserkorene Schar von Kunstsammler*innen und Museumsdirektor*innen feilzubieten?

Hunderte Kilometer östlich oder südlich sehnen sich Menschen nach einer Mahlzeit am Tag; nach einem Platz in der Schule, nach einem Leben in Anstand und Würde. Wohlgemerkt - wir schreiben das Jahr 2020. Achille Mbembe, der kamerunische Historiker, spricht in seinen Werken davon, dass die Sklavenhalterei zwar offiziell abgeschafft, aber in vielen Bereichen noch immer unveränderter Bestandteil des vorherrschenden Systems ist.

Macht es Sinn, noch größere Festivals mit noch größerem Mitteleinsatz und noch tolleren Künstler*innen  für eine Seitenblicke-Gesellschaft zu inszenieren? Macht es Sinn, sich wechselseitig mit Auslastungszahlen und Umwegrentabilitäts-Studien zu überbieten?

Boot

Wir sitzen alle im selben Boot. Gebot der Stunde sollte eine komplette Neubewertung von Kunst und Kulturschaffen sein. Da ist konstruktive Kritik erwünscht und viel Phantasie erforderlich. Am Spiel steht nicht mehr und nicht weniger als eine zukunftsfähige und tragfähige Basis für eine Weltgesellschaft, die nicht Geld, Ruhm und Reichtum ins Zentrum des Interesses rückt, sondern Respekt, Fürsorge, Anteilnahme, Gemeinwohl und Liebe. Sind diese Werte nicht tief in unserer DNA eingeschrieben? Doch Jahrzehnte wirtschaftlicher Entwicklung drücken sie an den Rand. Dann wird in spirituellen Selbsterfahrungsgruppen versucht, den Sinn wiederzufinden. Kunst ist Leben. Leben ist Kunst. Künstler*innen sind Lebenskünstler*innen, ausgestattet mit dem siebten und dem achten Sinn. Sie sind Seismograph*innen, Impulsgeber*innen, die Narren und Närrinnen, die der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten. Schauen wir hinein. Die Kulturindustrie benötigt, wie viele Bereiche dieser aufgeteilten Welt,  eine Neuorientierung.

Genug ist genug.

 

Horst Watzl, Mai 2020

Referent für Musik, Medien und Veranstaltungen bei Kulturen in Bewegung